Silvia Leonor Alvarez de la Fuente (1953–2004)

Silvia Leonore Alvarez de la Fuente © Archiv Frau und Musik
Silvia Leonor Alvarez de la Fuente © Archiv Frau und Musik

„Wenn ich ‘Etwas zu sagen habe’, dann fange ich an Komponistin zu sein, ich arbeite lang und tief mit dem ersten Funken, ich informiere mich, lese, denke und lasse die musikalischen Gefühle auf mich und meine Techniken wirken.“

In unserem Archiv steht eine blaue Pappkiste, darauf ist sorgsam notiert: „Musikhochschule Stuttgart soll sich um die Originale meiner eigenen Kompositionen und Dokumente (z. B. mein eigener Prof.-Titel) kümmern. 18.04.2004.“ Die Komponistin Silvia Leonor Alvarez de la Fuente hat hier ihre wichtigsten Dokumente, Kompositionen und Skizzen gesammelt, um sie für die Nachwelt zu erhalten. Neben der blauen Kiste gibt es noch zahlreiche Ordner – ebenso ordentlich beschrieben – mit Briefen, Verträgen und Rechnungen. Außerdem weitere Autographe und musiktheoretische Schriften. Alvarez de la Fuente schreibt in einem ihrer Texte: „Musik wird erlebt. Musik braucht keine Berechtigung durch Philosophie, technische Moden und Klischees. Sie ist eine der unabhängigsten, schönsten und tiefsten Künste, die es gibt; deswegen ist es schwer und oft sinnlos, darüber zu sprechen.“ Glücklicherweise hat sie dennoch viel über Musik geschrieben – über ihre eigenen Kompositionen und die anderer.

Am 18. März 1953 wurde Silvia Leonor Alvarez de la Fuente in Buenos Aires/Argentinien geboren. Dort studierte sie Musik und wurde 1981 zur Professorin für Komposition ernannt. Trotzdem ging sie 1985 nach Deutschland und studierte hier noch einmal Komposition. Warum studiert eine Professorin erneut? Warum geht Alvarez de la Fuente überhaupt nach Deutschland? Im Nachlass findet sich als mögliche Antwort allein ein Stipendium der Konrad-Adenauer-Stiftung, das ihr das Studium in Deutschland ermöglichte.

Argentinien unter der Militärdiktatur

Argentinien war nach Kriegsende bis in die 1980er Jahre geprägt durch politische und wirtschaftliche Instabilität. Immer wieder sorgten Militärputschs für ein Ende demokratischer Prozesse. Alvarez de la Fuentes Kindheit fiel in die Zeit der Diktatur Jorge Rafael Videlas, unter dessen Führung an die 30.000 Menschen verschwanden – darunter zahlreiche Studierende, deren Mütter trotz Lebensgefahr auf der Plaza de Mayo demonstrierten, und damit als Madres de Plaza de Mayo (Mütter der Plaza de Mayo) in die Geschichte eingingen. 1983 kehrte das Land zur Demokratie zurück. Aber konnte Alvarez de la Fuente das 1985 wissen, als sich die Möglichkeit ergab, nach Deutschland zu gehen? Ging sie aus politischen Gründen? Oder war die wirtschaftliche Situation derart instabil, dass sie mehr Hoffnungen auf eine künstlerische Betätigung in Deutschland setzte? Wir wissen es nicht; es gibt zu diesen Fragen keine Dokumente im Nachlass.

Silvia Leonore Alvarez de la Fuente, ca. 1985 © Archiv Frau und Musik
Silvia Leonor Alvarez de la Fuente, ca. 1985 © Archiv Frau und Musik

War es die Musik, die Alvarez de la Fuente nach Europa zog? Schon früh beschäftigte sie sich mit Anton Weberns Kompositionen, aber auch den Fugen von Johann Sebastian Bach. Die Kompositionstechniken der sogenannten Neuen Musik interessierten sie; es lag also nahe, nach Deutschland zu kommen. Dort angekommen nahm sie Milko Kelemen an der Stuttgarter Musikhochschule in seine Kompositionsklasse auf, in der unter anderem – wenn auch nicht zeitgleich mit Alvarez de la Fuente – Adriana Hölszky und Mia Schmidt studierten.

Bei ihrem eigenen Komponieren war ihr es wichtig, dass sie „etwas zu sagen habe“. Wie sie „es sagt“, der Aspekt der Technik, kam für sie an zweiter Stelle. „Ich schreibe grundsätzlich soweit es geht in traditioneller Notation. Meine Partituren sehen nicht besonders aufregend aus. Ich denke, daß wichtig ist, was man hört und nicht, was man sieht.“ Verglichen mit den Partituren anderer Komponist*innen der Zeit – etwa auch Leni Alexander – sind die Notationen von Alvarez de la Fuente tatsächlich traditionell. Faszinierend ist hier vielmehr die Sorgfalt der Partituren, der Anmerkungen, der Gedanken, die sie den Autographen oft beifügt. Ausgangspunkt ihrer Kompositionen waren oft Texte und Gedichte südamerikanischer Dichter*innen wie Gabriela Mistral oder Jorge Luis Borges. Nicht immer dienten sie als Grundlage von Vokalkompositionen, manchmal inspirierten sie Alvarez auch zu rein instrumentalen Kompositionen.

Vernetzt in Süddeutschland

Schon während ihrer Studienzeit war Alvarez de la Fuente war gut vernetzt in der (süd-)deutschen Musikszene. So wurde ihre Musik von zahlreichen Ensembles uraufgeführt und vom Süddeutschen Rundfunk ausgestrahlt, unter anderem ihr Chorstück Tiempo y Sueño. Interessant ist vor allem ihr Eintritt in den Internationalen Arbeitskreis Frau und Musik e. V., dem Trägerverein des Archiv Frau und Musik, schon kurz nach ihrem Umzug nach Deutschland. Doch nur zwei Jahre später tritt sie wieder aus. In einem Brief an die damalige Vereinsvorsitzende Siegrid Ernst beschreibt sie ihre Gründe: Auch wenn sie der Meinung sei, „daß es die Frauen allgemein im Beruf schwerer als die Männer haben“, belasteten sie die politische Situation in Argentinien sowie ihre gesundheitlichen und materiellen Probleme so stark, dass sie sich nicht aktiv für die Ziele des Arbeitskreises einzusetzen vermöge. Weitere konkrete Äußerungen zu frauenpolitischen Themen finden sich nicht in Alvarez de la Fuentes Nachlass. Aber sie hatte Kontakt zu Roswitha Sperber, die in Heidelberg das Festival Komponistinnen gestern–heute gegründet und sich der Förderung der Musik von Komponistinnen verschrieben hatte. 1992 beauftragte das zum Festival gehörige Ensemble Alvarez de la Fuente mit einer Komposition. So entstand Piececitos für Stimme, Flöte, Klavier, Schlagzeug und Tonband, basierend auf Texten von Gabriela Mistral. Noten und eine Aufnahme der Uraufführung finden sich in unserem Nachlass.

Silvia Leonore Alvarez de la Fuente, Auszug aus "Tiempo y sueno" © Archiv Frau und Musik
Silvia Leonor Alvarez de la Fuente, Auszug aus “Tiempo y sueno” © Archiv Frau und Musik

1989 schloss Alvarez de la Fuente ihr Kompositionsstudium in Stuttgart ab, danach arbeitete sie an verschiedenen Musikschulen. Gleichzeitig komponierte sie weiter. In die letzten Jahre ihres Lebens fiel die Zusammenarbeit von Alvarez de la Fuente mit Dietburg Spohr und ihrem Ensemble <belcanto> – Dietburg Spohr Frankfurt. Die Jahre waren aber vor allem geprägt von den gesundheitlichen Leiden, die Alvarez de la Fuente schon 1986 im Brief an Siegrid Ernst andeutete: Sie litt vermutlich an Wahnvorstellungen und Paranoia – eine psychologische Diagnose gibt es nicht. Nach und nach brach Alvarez de la Fuente sämtliche Kontakte mit der Familie und Bekannten ab, zum Komponieren kam sie fast gar nicht mehr, dafür füllten sich Ordner mit ärztlicher Korrespondenz. Nach ihrem selbst gewählten Tod im Jahr 2004 ging Alvarez de la Fuentes Nachlass auf eigene Bitte hin an Dietburg Spohr, die ihn – ebenfalls auf Wunsch der Komponistin – dem Archiv Frau und Musik anvertraute. Dort liegen zahlreiche Noten und Audioaufnahmen, um weitere Künstler*innen zu inspirieren und die Musik weiterzutragen: „Ich kann und will mich nicht auf eine einzige plakative und endgültige Meinung über neue Musik festlegen. Ich möchte mich ständig ändern und weiterentwickeln. Das Gegenteil ist der Tod der Musik.“

Nach erfolgter Rechteklärung werden zahlreiche Audioaufnahmen, Fotografien und Autografe aus dem Nachlass von Silvia Leonor Alvarez de la Fuente auf der Seite des Digitalen Deutschen Frauenarchivs zu sehen sein.

Im Rahmen des Projekts Worauf Warten Wir? ist ein Personenessay zu Silvia Leonor Alvarez de la Fuentes im Digitalen Deutschen Frauenarchiv erschienen.

Weiterführende Literatur

  • Spohr, Dietburg: …verloren…Stationen eines Lebens. Silvia Leonor Alvarez de la Fuente, in: Archiv Frau und Musik (Hg.): VivaVoce Nr. 71, 2005.
  • Koch, Gerhard R.: Zum Tode der argentinischen Komponistin Silvia Alvarez de la Fuente, in: Archiv Frau und Musik (Hg.): VivaVoce Nr. 68, Sommer 2004.
  • Lienhard, Daniel: Silvia Alvarez de la Fuente: Ein Leben auf zwei Kontinenten, in: clingKlong, Nr. 52, 2004.