Leni Alexander (1924–2005)

Leni Alexander © Archiv Frau und Musik
Leni Alexander © Archiv Frau und Musik

Leni Alexander war Zeit ihres Lebens eine engagierte Künstlerin: Ihr Schaffen war geprägt von Repressionserfahrungen, politischem Handeln und einem unbändigen Interesse an ihren Mitmenschen. Leben und Kunst waren für sie untrennbar miteinander verbunden. Fast symptomatisch scheint deshalb das musikalische Genre, für das sie berühmt wurde: Das Radiotheater. Ihre autobiografischen Hörstücke erlauben es, Leni Alexanders Leben auch anhand ihrer Werke zu erzählen.

Das Leben ist kürzer als ein Wintertag oder Par quoi? A quoi? Pour quoi? (WDR 1989)

„Discha, Discha…“: Mit diesen Rufen beginnt das Hörstück. Es basiert auf den Erfahrungen von Leni Alexander, die von ihrem Stiefvater Discha genannt wurde, – einem jüdischen Mädchen, das unter den Schrecken des Faschismus leidet. Zwischen die Schilderungen der Schulzeit mischt Alexander Bearbeitungen eigener Musik, jiddischer Lieder, aber auch chilenischer Protestlieder. Denn die Ereignisse in Chile fünfunddreißig Jahre später weckten in ihr Erinnerungen an die Flucht aus Deutschland.

Als die Nationalsozialisten 1933 in Deutschland an die Macht kamen, war Alexander neun Jahre alt. Gemeinsam mit ihrer Mutter, der Sängerin Ilse Pollack, und dem Stiefvater Siegfried Urias erlebte sie in Hamburg die Repressionen gegen jüdische Bürger*innen, aber erst die Pogromnacht 1939 konnte die Familie zur Flucht zwingen. In ihrem Exil Chile erhielt Leni Alexander bald wieder Musikunterricht, später studierte sie Psychologie und Montessori-Pädagogik. 1949 begann sie zusätzlich ein Kompositionsstudium bei dem holländischen Komponisten Fré Focke. Durch ihn lernte Alexander neue musikalische Welten kennen:

„Ich spürte, dass sich Türen öffneten, deren Existenz mir bis dahin unbekannt war. Hinter diesen Türen konnte ich eine Musik entdecken, eine Art und Weise, über Musik nachzudenken und sie zu hören, die von diesem Moment an eine Offenbarung für mich war.“

Leni Alexanders Cantata "de la muerte a la mañana" © Archiv Frau und Musik
Leni Alexanders Cantata “De la muerte a la mañana” © Archiv Frau und Musik

1954 erhielt Alexander ein Stipendium des französischen Staates und konnte in Europa enge Kontakte zu Komponisten wie René Leibowitz, Olivier Messiaen, Bruno Maderna und Luigi Nono knüpfen. So prägend die Arbeit mit der europäischen Avantgarde war, so sehr fremdelte sie mit deren teilweise elitärem Kunstverständnis, bei dem – laut Alexander – die Technik über der musikalischen Kreativität stand. Vielleicht lag es an ihrer Ablehnung politisch rigider Systeme, dass sie auch in der Musik jeglichen Dogmatismus, aber auch klare Hierarchien, vermied. So sind die meisten ihrer Kompositionen atonal und weisen den Interpret*innen einen hohen Grad an Mitverantwortung und Entscheidungsfreiheit zu.

Bei ihrem ersten Besuch in Köln im Jahr 1960 wurde Alexanders einziges Chorwerk, ihre Kantate From Death to Morning, uraufgeführt. Das Werk hatte sie für das Weltmusikfest der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik komponiert.

Ende der 1960er Jahre ging Alexander zunächst zurück nach Chile. Eine Zeit der ständigen Ortswechsel zwischen Chile, Europa und den USA folgte, bis 1969 Leni Alexander mit ihrem jüngsten Sohn dank eines Guggenheim-Stipendiums wieder nach Paris zog. Ihr zweiter Aufenthalt wurde 1973 mit dem Militärputsch in Chile zu einer erneuten Exilsituation. Daraufhin vertiefte sie ihr politisches Engagement, arbeitete für Amnesty International und verschiedene chilenische Solidaritätsorganisationen.

Chacabuco, die Geschichte einer Geisterstadt in Chile (WDR 1993)

Leni Alexanders Cantata "de la muerte a la mañana" © Archiv Frau und Musik
Leni Alexanders Cantata “De la muerte a la mañana” © Archiv Frau und Musik

Hier prangert Alexander die Verbrechen Pinochets ebenso wie die Verstrickungen europäischer Regierungen mit der Politik Chiles an: Die Geisterstadt Chacapuco diente nach dem Militärputsch als Gefangenenlager, während zuvor in den dortigen Salpeterminen die Bergarbeiter ausgebeutet wurden – wovon vor allem europäische Firmen profitierten. Alexander mischt populäre Musik aus dem Norden Chiles, Verse von Pablo Neruda und Goethes Faust mit Aufnahmen von Gesprächen der Komponistin mit einem Bergarbeiter und einem ehemaligen Häftling des Gefangenenlagers.

Durch zahlreiche Stipendien, Kompositionsaufträge – etwa von Radio France – und Musikunterricht für Kinder finanzierte Leni Alexander ihren Lebensunterhalt in Paris. Auch in Südamerika war sie weiterhin aktiv: Auf einer argentinischen Konzerttournee lernte sie das Frankfurter Ensemble Modern kennen. Diese Begegnung mündete 1984 in eine Zusammenarbeit bei dem Kölner Festival Experimentierfeld: Frauen-Musik zur Aufführung. Ende der 1980er Jahre ging die Komponistin wieder zurück nach Chile, verbrachte aber bis kurz vor ihrem Tod jedes Jahr einige Monate in Paris und Köln, wo sie vor allem für den WDR komponierte und Hörstücke entwickelte. Leni Alexander starb am 7. August 2005 im Alter von 83 Jahren in Chile. 2013 übergaben die Erb*innen einen Großteil ihres Nachlasses an das Archiv Frau und Musik in Frankfurt.

Die Geschichte des Wagens. Überlegungen und Gedanken während einer Fahrt im Wagen MERKABAH, der das Ursein betrifft (Textmanuskript 2001)

In ihrem unvollendeten Hörstück fordert Alexander noch einmal das „Nicht-Vergessen“ ein. Der Wagen Merkahba – in der jüdischen Mystik der Thronwagen Ezechiels – fliegt durch die Landschaft „der Geschichte der Schöpfung“ entgegen. Am Ende des Textes steht die Mahnung: „Die Erinnerung an alles Vergangene darf nicht verloren gehen, so wie die Geschichte des Menschen uns für immer angehört, sie uns das Leben gibt, in dem für das Vergessen kein Raum ist.“

Mehr Informationen zu Leni Alexander finden Sie unter

Im Rahmen des Projekts Worauf Warten Wir? ist ein Personenessay zu Leni Alexander im Digitalen Deutschen Frauenarchiv erschienen.


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