Violeta Dinescu – Sarpelecupene

Violeta Dinescu – Sarpelecupene: klangethnographische Skizzen einer Welt zwischen Rumänien und der Ferne

Die Gefiederte Schlange (rumänisch ‚sarpelecupene‘) ist Schöpfer- und Naturgottheit vieler amerikanischer Hochkulturen, sie beherrscht Zeit und Ozeane und ist Schutzpatron der Zivilisation. In ihrer Komposition erweckt Dinescu den Mythos der Schlange musikalisch zum Leben und zeichnet ein hochkomplexes sowie reiches Bild des zentralasiatischen Raums.

Neben für westliche Ohren fremden Instrumentalklängen und Motiven fallen besonders der oft mit zentralasiatischem Alltagstrubel assoziierte hohe Geräuschanteil und die Zeitlosigkeit des Werkes auf. Zirkuläres Zeitempfinden, das durch ein nicht erkennbares Metrum evoziert wird, und Szenerie schlagen die Brücke von Mantra zu Quetzalcoatl. Dinescu kreiert eine herausragende Klangfarbenvielfalt, nicht nur durch die indische Oboe Sona und das rumänische Kürbisblasinstrument Tiuga sowie das afroamerikanische Membranophon Kazoo, sondern auch durch die Bandbreite verschiedener Spieltechniken und Klanggestaltung auf den eingesetzten westlichen Querflöten: Diese erwecken einmal den Eindruck einer bansoori (indische Holzquerflöte), einmal den einer japanischen shakuhachi-Flöte oder auch den eines Dudelsacks.

Die außerordentliche Virtuosität verkörpert der Flötist Ion Bogdan Enescu insbesondere durch seine atemberaubend genaue und fein nuancierte Intonation. So wirkt die erste sarpelecupene wie eine Trance: Flächenklänge und Alt-Motive kreieren in dynamischen und harmonischen Wellen einen Zeit und Raum entrückten Schwebezustand. Die zweite sarpelecupene ruft den Hörer durch das einleitende Sonasolo unmittelbar zurück in ein konkretes und präsentes Alltagsgeschehen. Dieses Wechselspiel zwischen In-der-Welt-Sein und Außerweltlichem führt symmetrisch durch Dinescus Werk.

Ein Raunen und Klagen durchtönt die dritte, erneut weltfremde Periode. Intonation und Stimmung wie auch die später eingeführten perkussiven Elemente erinnern an die Dämmerungs-Ragas, die Meditationen der indischen  Dhrupadmusiker (archaischer nordindischer Stil). Jäh gerufen durch das Ankündigungsmotiv der Tiuga, gleicht der vierte Satz einem Gespräch am Familientisch, besonders in den Bassflöten- und Tiugaspuren. Die fünfte sarpelecupene schließt den Kreis, sie nimmt das allererste Thema ringkompositorisch auf und vereint die schwirrenden, sphärisch hohen Flöten mit den kontemplativen Bassmotiven.

Zuletzt erklingen Kazoo und präpariertes Klavier, das eher an persische oder indische Lauten erinnert, und geben dem Zyklus Fundament und Erdung. Eine religiöse Hymne, irgendwo zwischen Muezzingesängen und fernöstlichem Mantra angesiedelt, preist die Gefiederte Schlange und ihre Schöpfung Welt.

Violeta Dinescus Sarpelecupene für Altquerflöte über 16-32 Flötentonspuren ist ein vielschichtiges und fesselndes Werk mit ungeahnter Vielfalt an Klangfarben und Bildern. Raffiniert und ohne Exotismus werden außerweltliche Trance, Mythos und Lebensrealitäten kombiniert.

Die CD ist 2016 bei Sargasso erschienen und dort sowie im Online-Handel für £10.00 erhältlich.

(Carla Tiefenbacher)