Nachruf auf Siegrid Ernst-Meister (1929–2022)

Siegrid Ernst-Meister © CC BY-SA 3.0 Dietrich Hilmi
Prof. h. c. Siegrid Ernst-Meister © CC BY-SA 3.0 Dietrich Hilmi

Am 3. März erst haben wir noch ihren 93. Geburtstag gefeiert, nun trauern wir um Siegrid Ernst-Meister. Die Pionierin des Archivs Frau und Musik ist am 20. März friedlich eingeschlafen, wie ihre langjährige Schülerin und enge Freundin Stefanie Golisch in einer E-Mail an das Team des Archivs Frau und Musik mitteilte: “Ich bin einfach nur dankbar für alles, was ich von Siegrid gelernt habe und werde ihren Kampf für uns Frauen nun weiterführen.”

Siegrid Ernst war eine Weltreisende, und auch ihre Werke reisten um die Welt. Aufgewachsen in Ludwigshafen, erhielt sie im Alter von sieben Jahren Klavier- und Violinunterricht und beschäftigte sich früh mit Musiktheorie. Nach ihrem Abitur studierte sie Musikpädagogik bei Else Rehberg in Heidelberg, danach Klavier in Wien und anschließend für sechs Jahre Komposition bei Gerhard Frommel in Heidelberg.

Siegrid Ernst, die Weltreisende

Als Pianistin reiste sie viel, auch zusammen mit ihrem späteren Ehemann Konrad Meister (1930–2003). Nach der Geburt ihrer beiden Kinder in den 1960er Jahren verlegte sie ihren Schwerpunkt von der Musikpädagogik hin zur Komposition und veröffentlichte 1961 Haikus in Zwölftontechnik. Durch ein Stipendium konnte sie einige Zeit in Paris leben und lernen. Nach dieser Zeit lehrte sie an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Heidelberg-Mannheim und an der Hochschule für Künste in Bremen Klavier, Tonsatz, Formenlehre sowie Analyse zeitgenössischer Musik und Improvisation.

Barbara Heller, Eva Rieger, Siegrid Ernst © Archiv Frau und Musik 2019
Titaninnen: Barbara Heller, Eva Rieger, Siegrid Ernst © Archiv Frau und Musik 2019

Barbara Heller erinnert sich an Siegrid Ernst so: “Ich kannte Siegrid, seit wir 20 Jahre alt waren. Sie war meine Kollegin in Mannheim als junges Fräulein und daher habe ich sie in den Internationalen Arbeitskreis Frau und Musik mitgebracht. In ihrem Inneren war sie sehr klar und stark und zufrieden.” Prof. Dr. Eva Rieger erinnerte sich in ihrem eigenen Porträt-Video an Siegrid Ernst ähnlich: “Ich möchte auch Siegrid Ernst erwähnen die sehr beruhigend auf alle Konflikte gewirkt hat.”[1]

Förderung

Siegrid Ernst “wurde von der GEDOK sehr gefördert mit einem Porträt-Konzert, aber auch die haben mir nie etwas von anderen Komponistinnen erzählt, obwohl die GEDOK ja auch mit Komponistinnen arbeitete. […] Ich war sehr überrascht, von Elke Mascha Blankenburg angeschrieben zu werden.”

Diese hatte Siegrid Ernst nach Köln eingeladen, weil sie ein Treffen für Komponistinnen veranstaltete: “Und es war, ja, eine euphorische Stimmung. Es waren auch so starke Persönlichkeiten aus dem Ausland da und es war eine richtige Aufbruchstimmung: ‘Jetzt machen wir was, jetzt hauen wir auf die Pauke und zeigen mal, wer wir sind!’ Meine ganze Komponiererei war eigentlich auch sehr stark beeindruckt von, oder beeinflusst von dem Vorhaben, ich will das zeigen, dass ich das auch kann. Das kann Frau auch!”

Die Pionierin, die nicht locker ließ

Und das konnte sie! Deswegen hat sie viele verschiedene Stile und Besetzungen ausprobiert, zum Beispiel für Klavier und Schlagzeug. In diesem Fall wurde ihr von der Konzertorganisation gesagt, dass es nur einen Schlagzeuger gäbe, der das spielen könne, aber der sei so teuer, “dass Sie sich diesen eh nicht leisten können.” Siegrid Ernst fand diesen Einwand vorgeschoben (was sich als richtig herausstellte) und bezahlte den Schlagzeuger selbst: “Das war ein typisches Vorurteil von der Fachwelt, aber das ist jetzt abgebaut.” Der Schlagzeuger fand das Stück dann so gut, dass er es mehrmals aufgeführt hat.

“Mir ist wichtig, dass die Musiker*innen mein Werk gern spielen und dass auch beim Publikum das emotionale Geschehen unmittelbar ankommt.”

Wirken im Internationalen Arbeitskreis Frau und Musik

Siegrid Ernst-Meister und Barbara Heller, 40-Jahr-Feier IAK, Frankfurter Römer © Eva Brendel 2019
Siegrid Ernst-Meister und Barbara Heller, 40-Jahr-Feier IAK, Frankfurter Römer © Eva Brendel 2019

Vorstandsfrau des Internationalen Arbeitskreis Frau und Musik e. V. wurde Siegrid Ernst, “nachdem der Verein dann wirklich gegründet wurde. Es war ja ein Vorlauf immer nötig und dann haben sie mich aber gleich miteinbezogen. Nachdem Elke Mascha Blankenburg zurückgetreten ist, wurde ich erste Vorsitzende und daraus wurden dann zwölf Jahre.”

1982 organisierte Barbara Kaiser in Berlin ein Komponistinnen-Festival, das über viele Jahre fortgesetzt wurde. Siegrid Ernst war daran beteiligt und wirkte als Pionierin in der aufkommenden Frauenmusikbewegung. “Es war unglaublich spannend zu sehen, wie all diese Komponistinnen unterschiedlich gefördert, aber doch sehr starke ‚Einzelkämpfer-Naturen‘ waren und sein mussten, um ihren Weg zu machen. Sich darüber auszutauschen war berührend.”

Die Netzwerkerin

Siegrid Ernst bewegte sich in den Netzwerken in Oldenburg und Bremen um Ute Schaltz-Laurenze, Violeta Dinescu oder Freia Hoffmann. “Uns war klar: Wenn wir was aufführen wollen, brauchen wir Noten. Und dann war eine der ersten Aufgaben an uns alle: Jede schaut in den Bibliotheken und in der Universität, gibt es Noten? Und da wurden wir erstaunlich fündig. Es war ja viel aufgehoben worden, aber die Oeuvres waren zu klein, als dass sie ins Bewusstsein der Öffentlichkeit hinein weiter in die Jahrhunderte wirken konnten. Wir spielten aus Fotokopien, aber das war ein ganz wichtiger Teil der Arbeit. Uns war klar, dass es mit Konzerten allein nicht getan ist und dass die Information doch auch in die Universitäten und Schulen kommen müsste. Es war einfach wahnsinnig viel Arbeit und es muss professionell geschaut werden, dass die Stücke pädagogisch auch gut sind. Das ist erst später dann zustande gekommen.”

Kurz nach der Gründung des IAK wurde Siegrid Ernst zusammen mit anderen Wegbereiterinnen für die Planung des Kongresses Women in Music nach New York eingeladen. Von dort ging die Vernetzungsgruppe weiter nach Paris und Mexiko; Komponistinnen von dort wurden auch nach Deutschland zum Komponistinnen-Festival Musik total nach Bremen eingeladen.[2]

Große Ehrungen und Schaffen für die Kleinen

v. l. n. r.: Mary Ellen Kitchens (Vorstand IAK), ?, Rosemarie Heilig (Dezernentin für Umwelt und Frauen), Ayse Asar (Hessisches Ministerium für Wissenschaft und Kunst), Dr. Vera Lasch (Vorstand IAK), Heike Matthiesen (Vorstand IAK), Barbara Heller, Prof. Dr. Vivienne Olive, Prof. Dr. Eva Rieger, Prof. h. c. Siegrid Ernst-Meister – 40 Jahre IAK, Feier im Frankfurter Römer © Eva Brendel 2019
Vorstand des IAK mit Gründerinnen und Beauftragten der Stadt Frankfurt/Main – 40 Jahre IAK, Feier im Frankfurter Römer © Eva Brendel 2019

1989 erhielt sie die Ehren-Professorinnenwürde der Interamerican University of Humanistic Studies (Florida/USA) für ihr internationales Schaffen. Siegrid Ernst lag die Musikpädagogik immer am Herzen. Sie war viele Jahre lang als Jurorin für Jugend musiziert unterwegs. 1990 entstand ihre Kinderoper Jaga und der kleine Mann mit der Flöte. Seit 1998 war sie auch Vorsitzende der Jury im bedeutenden Bremer Komponistenwettbewerb.

Sie interessierte sich mit wachem Geist auch weiterhin für ‘ihr’ Archiv Frau und Musik und kam bis zum Ausbruch von Corona zu den Mitgliederversammlungen des IAK, darüberhinaus auch online. Auch bei der Premiere zu ihrem Videoporträt 2019 und der Feier des 40jährigen Archivjubiläums, das im Frankfurter Römer feierlichst begangen wurde, war sie dabei. Zu diesem Anlass wurde auch ein Werk von Siegrid Ernst aufgeführt.

Resilienz und Hoffnung

Siegrid Ernst © Archiv Frau und Musik
Siegrid Ernst-Meister © Archiv Frau und Musik 2019

Die Pandemie nahm sie mit einer besonderen Art von Resilienz, aber auch großem Bedauern, an: “Ich passe mich der jeweiligen Situation an, ohne die Einschränkungen emotional allzu sehr an mich ranzulassen. Kreativität ist überall gefragt und es fällt einem ja auch immer wieder etwas ein! […] Mit Freude denke ich immer wieder an unsere Treffen, wo die Effizienz beim Arbeiten mit der warmen persönlichen Zuwendung sich so glücklich vereinten. Wirklich schade, dass wir nicht mehr dazu Gelegenheit haben…”[3]

Online-Komponistinnentreffen, hier mit Prof. Dr. Vivienne Olive, Violeta Dinescu, Mary Ellen Kitchens, Siegrid Ernst und Heike Matthiesen, Oktober 2021 © Archiv Frau und Musik
Online-Komponistinnentreffen, hier mit Prof. Dr. Vivienne Olive, Violeta Dinescu, Mary Ellen Kitchens, Siegrid Ernst und Heike Matthiesen, Oktober 2021 © Archiv Frau und Musik

Prof. Dr. Vivienne Olive schrieb als langjährige Weggefährtin zu Siegrid Ernsts Tod:
“Es war nicht ganz unerwartet, aber trotzdem ein Schock. Ich habe Siegrid seit den Gründungstagen des IAK gekannt. Sie gehörte einfach dazu – und ich bin so froh, dass sie am Komponistinnenwochenende im Oktober 2021 noch per Zoom teilnehmen konnte. Ich hatte anschließend einen sehr netten Austausch mit ihr, und wir haben uns unsere CDs hin und her geschickt. Überhaupt hatte ich regelmäßig Kontakt mit Siegrid, sie war auch in Nürnberg bei unseren Tagen Neuer Musik und hat mit meinen Kompositionstudent*innen gearbeitet. Sie hat sogar vor langen Jahren mein Stück Pentakel für Klavier-Duo zusammen mit ihrem Sohn aufgeführt. Ich habe sie auch in Bremen besucht. Sie war immer so zuverlässig und eine recht vielseitige Komponistin, die ich sehr geschätzt habe. Es ist, als wäre jetzt eine Ära vorbei. Ich werde sie sehr vermissen.”

Siegrid Ernst-Meister war und ist mit uns und dem Archiv Frau und Musik verbunden und wird es weiterhin durch ihre Präsenz und ihre Kompositionen sein, die uns im Archiv durch unsere Arbeit täglich begegnen.

Wir danken ihr für ihre Sorge um dieses materielle und immaterielle Welterbe und halten sie immer in Erinnerung.

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Einzelnachweise
[1] Auszug aus dem Porträt-Video des DDF zu Prof. Dr. Eva Rieger in Kooperation mit dem Archiv Frau und Musik 2019.
[2] Auszüge aus dem Porträt-Video des DDF zu Prof. h. c. Siegrid Ernst-Meister in Kooperation mit dem Archiv Frau und Musik 2019.
[3] E-Mail-Verkehr mit Mary Ellen Kitchens im November 2020.

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